Ohrstecker schon fürs Baby – muss das wirklich sein?

Ohrstecker schon fürs Baby – muss das wirklich sein?

Nicht wenige Eltern finden es normal, dass ihr Baby schon sehr jung Ohrstecker oder kleine Ohrringe bekommt. Ob bereits Säuglinge mit diesem Schmuck jedoch „beglückt“ werden sollten, wird viel und teils auch kontrovers diskutiert. Ich sage euch gleich: Ich bin dagegen!

Dieses Thema ist stark mit kulturellen, traditionellen und persönlichen Bräuchen und Überzeugungen verbunden. In jedem Fall sollten Eltern ihre Entscheidung sorgfältig abwägen und sich zuvor gut informieren – zum Beispiel auch kinderärztlichen Rat einzuholen. So können sie sicherstellen, dass alle Aspekte berücksichtigen werden. 

In vielen Kulturen und Familien hat das Durchstechen bzw. Durchschießen der Ohren schon bei Säuglingen eine lange Tradition. Der Akt gilt oft als wichtiger Ritus und bedeutungsvolles Familienereignis. Dafür werden dem Kind häufig schon zur Geburt entsprechende Ohrstecker geschenkt. Und das ist weltweit durchaus weit verbreitet und beliebt:

• In Teilen Lateinamerikas (etwa in Mexiko, Kolumbien oder Venezuela) ist es z.B. üblich, dass Mädchen sehr früh nach der Geburt Ohrringe bekommen. Teilweise geschieht dies sogar noch in der Entbindungsklinik bei wenige Tage alten Neugeborenen oder in einem religiösen Akt bei der Taufe.

• Auch in der Hindu-Kultur in Indien gilt das Durchstechen der Ohrläppchen und Einsetzen goldener Ohrringe, häufig bereits bei Säuglingen, als traditionelles Ritual. Es ist unter dem Begriff „Karnavedha“ bekannt, erfolgt als bedeutendes kulturelles bzw. religiöses Zeremoniell und soll nach hinduistischem Glauben das Kind vor Krankheiten schützen.

• Ebenso ist es in einigen südostasiatischen Kulturen, etwa auf den Philippinen, in Thailand und in Indonesien, üblich, dass Mädchen bereits im Säuglingsalter Ohrringe gesetzt werden – teils aus ästhetischen Gründen, teils als Familien- oder Kulturtradition. Gleiches gilt in der Karibik (z.B. in der Dominikanischen Republik, in Puerto Rico oder auf Kuba) sowie in verschiedenen afrikanischen Kulturen. Überliefert ist das beispielsweise aus Nigeria, Äthiopien und Ghana.

• Aber auch in Südeuropa, so etwa in Italien, Griechenland, Portugal oder Spanien, ist es Tradition, Mädchen mit Ohrringen zu schmücken, kaum dass sie das Licht der Welt erblickt haben. Dies wird meist als Familienbrauch und Teil der kulturellen Identität angesehen.

Diese Beispiele zeigen: Erstens sind Ohrstecker bzw. Ohrringe für Babys weltweit durchaus verbreitet. Zweitens sind von diesem Brauch hauptsächlich Mädchen betroffen, nicht selten auch aus ästhetischen Gründen oder weil ihr Geschlecht betont werden soll. Aber sollte ein so kleiner Mensch bereits schon auf Rollenklischees festgelegt werden? Und drittens folgen Eltern dieser Tradition auch, um kulturelle Normen zu respektieren und familiäre Gepflogenheiten aufrechtzuerhalten.

Trotzdem möchte ich die Frage aufwerfen: Sind das wirklich ausreichende Gründe, sich für diesen Schritt zu entscheiden? Wenn wir das nicht aus der Perspektive der Erwachsenen betrachten, sondern mal vom Baby und Kindeswohl her denken, darf das bezweifelt werden. Schon weil immer noch Annahmen damit einhergehen, die nicht haltbar sind. Hier zwei Beispiele:

Stimmt es, dass Babys wirklich weniger schmerzempfindlich sind? Ganz klar: NEIN! Viele Eltern glauben jedoch immer noch, dass ganz junge Kinder weniger Schmerz fühlen und sich auch nicht an den Schmerz erinnern würden. Auf Basis dieser Annahme halten sie es für einfacher und weniger traumatisch fürs Kind, wenn der Eingriff an den Ohrläppchen in sehr frühem Alter erfolgt. 

Tatsächlich zeigen Studien jedoch, dass Babys genauso intensiv wie ältere Kinder oder Erwachsene Schmerz empfinden können – wenn nicht sogar stärker. Denn bereits ab der 26. Schwangerschaftswoche ist das fürs Schmerzempfinden zuständige Nervensystem eines Fötus voll ausgebildet. Daher werden Schmerzsignale auch bei einem Säugling effektiv ans Gehirn weiterleitet. Entsprechend wurde nachgewiesen: Babys reagieren auf schmerzhafte Reize mit erhöhter Herzfrequenz, erhöhter Kortisolproduktion (ein Stresshormon) und deutlichen Verhaltensänderungen wie Weinen, Schreien und Unruhe.

Natürlich können sich die ganz Kleinen nicht bewusst an den Schmerz erinnern – aber ihr Körper kann diese Erfahrung durchaus abspeichern. Es gibt wissenschaftliche Hinweise darauf, dass schmerzhafte Ereignisse in der sehr frühen Kindheit langfristige Auswirkungen auf die Schmerzempfindlichkeit und das Verhalten haben und die Schmerzverarbeitung und Stressreaktionen im späteren Leben beeinflussen können.

Es ist also ein Mythos, dass Babys weniger Schmerz empfinden als ältere Kinder oder Erwachsene. Daher sollte über jeden schmerzhaften Eingriff (wie etwa das Durchstechen der Ohrläppchen), der nicht aus medizinischen Gründen erfolgen muss, mit größter Sorgfalt und unter Berücksichtigung der Schmerzen und des Wohlbefindens des Kindes entschieden werden. 

Daher rate ich euch: Macht euch einfach die Schmerzempfindlichkeit eures Babys sowie die Risiken und mögliche Folgen bewusst – auch wenn ihr kleine Ohrstecker bei eurem Säugling noch so süß und niedlich findet! 

Stimmt es, das Wunden bei Babys wirklich leichter abheilen? Ganz klar: NEIN! Obwohl Säuglingen immer noch häufig unterstellt wird, dass bei ihnen Verletzungen rascher heilen würden, weil ihr Gewebe als regenerationsfähiger gilt.

Tatsächlich ist sogar das Gegenteil richtig: Babys besitzen zwar einen gewissen Nestschutz, haben jedoch noch ein unreifes Immunsystem. Das kann ihr Risiko für Infektionen sogar erhöhen. Eine unsachgemäße Pflege der verletzten Ohrläppchen kann daher rasch zu Komplikationen wie Entzündungen führen, teils können sich auch Keloide bilden, bei dem überschießendes Narbengewebe wuchert. 

Die Risiken fürs Kind

Schmerzen: Dass das Durchstechen oder Durchschießen der Ohrläppchen dem Baby wehtut, habe ich schon dargestellt. Und niemand kann absehen, wie sich diese Empfindung auf das spätere Leben eures Kindes auswirken wird.

Häufig liest man, dass dem Kind zur Schmerzlinderung bei Bedarf Paracetamol gegeben werden könne. Hierzu ist meine Position eindeutig: Bei erkrankungsbedingten Schmerzen des Babys kann das notwendig sein. Aber dem Kind bewusst Schmerzen zuzufügen, um diese dann wiederum mit Schmerzmitteln zu bekämpfen, lehne ich ab. Ich halte jeden Eingriff in den intakten Körper eines Kindes für problematisch.  

Infektionen oder andere Komplikationen nach dem Eingriff sind keine Seltenheit. Sie können durch den Eingriff selbst entstehen – weil er beispielsweise in einer nicht sauberen, hygienischen Umgebung durchgeführt wurde, weil die Instrumente nicht steril waren, weil die Ohrläppchen nicht ausreichend desinfiziert wurden oder weil das Personal keine Einweghandschuhe trug. 

Ein Infektionsrisiko bleibt aber auch nach dem Eingriff bestehen, denn das Durchschießen bzw. Durchstechen der Ohrläppchen verursacht Wunden, die sich entzünden können. Deshalb kommt es wesentlich auch darauf an, wie die verletzten Ohrläppchen anschließend gepflegt werden. Sind die Ohrläppchen stark entzündet und gerötet, pochen und nässen sie, ist der Gang in die Kinderarztpraxis unumgänglich. Denn es besteht auch das Risiko, dass sich daraus z.B. eine Gesichtsphlegmone entwickeln kann. Das ist eine bakterielle Entzündung der Haut und des dazugehörigen weichen Bindegewebes. Sie tritt nach Verletzungen auf und kann sich in die Tiefe bis zur Muskulatur ausbreiten. Besonders gefährdet dafür sind Menschen mit einem geschwächten Abwehrsystem – und das ist bei Babys nun wirklich noch nicht stark. Phlegmonöses Gewebe erscheint dunkelrot, ist geschwollen und schmerzt. Eine solche Entzündung kann zu lebensbedrohlichen Komplikationen führen.

Stress geht mit der Prozedur des Durchstechens für das Kind immer einher – angefangen beim Festhalten während des Eingriffes sowie fortgesetzt beim Heilungsprozess. Denn die verletzten Ohrläppchen müssen zwei- bis dreimal täglich mit einer antiseptischen Lösung, einer milden, alkoholfreien Desinfektionslösung oder einer Kochsalzlösung gereinigt werden, um Infektionen zu verhindern. Außerdem wird nicht selten empfohlen, die Ohrringe oder -stecker vorsichtig einmal täglich im Öhrchen zu drehen, damit sie nicht an der Hautwunde festkleben. Diese Manipulationen können dem Baby erheblichen Stress bereiten.

Und noch ein weiterer Punkt: Eltern müssen während der Heilungszeit (etwa 6 bis 8 Wochen) sorgfältig darauf achten, dass ihr Baby nicht an den Ohrringen oder -steckern zieht oder daran spielt. Den an ihren Händchen tummeln sich leider oft Bakterien, die in die Wunde gelangen und das Ohrläppchen infizieren können. Im Zweifelsfall musst du seine Händchen also andauernd von den Ohren fernhalten – was für Eltern und das Kind gleichermaßen Stress bedeutet.

Allergien bzw. allergische Reaktionen gegen das verwendete Material der Ohrstecker bzw. -ringe sind keineswegs ausgeschlossen. Gerade auf Nickel oder Legierungen könnte dein Kind sehr heftig reagieren. Um dieses Risiko zu minimieren, sollte das Schmuckmaterial unbedingt als hypoallergen und nickelfrei gekennzeichnet sein.

Verletzungen sind ebenfalls eine Gefahr. Beispielsweise beim An- und Auskleiden des Babys kann ein Hemdchen, Jäckchen oder die Mütze am Stecker bzw. Ohrring hängenbleiben und das Ohrläppchen einreißen. Auch das Kind selbst kann sich beim Spielen auf diese Weise verletzen. Oder die Kleinteile des Schmucks gar verschlucken, wenn sich ein Stecker bzw. Ohrring aus Versehen oder beim Spielen löst. Dann besteht neben der Verletzungsgefahr auch Erstickungsgefahr!

Dies alles sind gewichtige Gründe für Eltern, noch einmal innezuhalten und sich sehr gut zu überlegen, ob sie ihrem Baby wirklich schon Ohrstecker oder -ringe „verpassen“ lassen möchten. Wägt die Risiken also gut ab! Und bedenkt dabei auch: Euer Kind ist noch viel zu jung, um seine Zustimmung in den Eingriff geben zu können. 

Tatsächlich gibt es keine gesetzlich festgelegte Altersgrenze für das Stechen von Ohrlöchern bei Kindern. Theoretisch ist das also auch schon bei Säuglingen erlaubt. Mindestens sollten Eltern darauf aber verzichten, bis das Kind die wichtigsten Impfungen (z.B. Diphtherie, Tetanus) erhalten hat. Viele Expert*innen empfehlen hingegen, den Eingriff nicht vor dem 6. Lebensjahr vornehmen zu lassen. Bis dahin könnte sich das Kind auch schon selbst Ohrringe wünsche – was aber nicht heißt, dass ihr diesen Wunsch auch erfüllen müsst! Aus meiner Sicht auch interessant: Die Deutsche Gesellschaft für Piercing – und das Ohrlochstechen ist nichts anderes als Piercing! – plädiert sogar dafür, mit den Ohrlöchern bei Kindern bis zum Alter von 14 Jahren zu warten.  

Solltet ihr euch dennoch sehr frühzeitig dafür entscheiden, so ist für den Eingriff selbst sowie auch während des Heilungsprozesses (etwa sechs bis acht Wochen) vor allem die Hygiene zu beachten. 

• Lasst den Eingriff also nicht irgendwo vornehmen, sondern nur in sauberer Umgebung mit sterilen Instrumenten von geübtem Fachpersonal. 

• Informiert euch sorgsam beim Fachpersonal, wie ihr die frisch gestochenen Ohrläppchen anschließend versorgen solltet.

• Wascht euch stets sorgfältig die Hände, bevor ihr die verletzten Ohrläppchen eures Babys berührt, denn sorgfältiges Händewaschen ist das A und O!

• Haltet die frisch gestochenen Ohrlöcher stets sauber und trocken. 

• Achtet auch auf die kleinsten Infektionsanzeichen – und wendet euch im Zweifelsfall sofort an die Kinderärztin bzw. den Kinderarzt.

• Vermeidet wochenlang das Babyschwimmen mit eurem Kind. Auch schwitzen sollte es während der Heilungszeit möglichst nicht. Beides kann Infektionen begünstigen.

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Katharina Jeschke: Hebamme, zertifizierte Erste Hilfe Trainerin, zertifizierte Schlafcaochin für Babys und Kinder

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Katharina Jeschke

Gründerin von elternundbaby.com und Hebamme, zertifizierte Erste Hilfe Trainerin, zertifizierte Schlafcaochin für Babys und Kinder

Als Hebamme, Schlafcoachin für Babys und Kinder, sowie als Erste Hilfe Trainerin unterstütze ich Frauen und Eltern dabei Schwangerschaft, Geburt und die Zeit als Eltern gut und entspannt zu gestalten. Ich bin selbst Mama von zwei bezaubernden Kindern.

Kinder sollen sicher und geborgen wachsen können. Dafür brauchen sie starke Eltern, die mit Wissen und Intuition die Entwicklung ihrer Kinder begleiten. Meine Hebammenhilfe soll Eltern das Wissen und Vertrauen geben, das sie ihren individuellen Weg finden und gehen können.

Dieser Blog elternundbaby.com ergänzt meine online Hebammensprechstunde und meine online Kurse von notdiensthebamme.de

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